Paul Vanderbroeck, Coach im Bereich der Führungsentwicklung und Forscher, hat als HR-Verantwortlicher in multinationalen Konzernen gearbeitet. Sein Verdikt zum Thema Gender Diversity: Sie nützt der Unternehmensperformance. Aber bis sie in Unternehmen verankert wird, gibt es noch viel zu tun. Im Interview spricht er über Strategien und Massnahmen.

WOMEN IN BUSINESS: Das Thema Gender Diversity gehört inzwischen zum guten Ton jeder grossen Organisation und wird an Businessschools, in Unternehmen und in politischen Foren diskutiert. Was hat sich real bewegt in den letzten Jahren?

Paul Vanderbroeck: Was die Vertretung von Frauen in Führungspositionen in Unternehmen anbetrifft, stelle ich – nach Jahren des langsamen, aber stetigen Fortschritts – eine Stagnation fest. Die letzten Studien, die von McKinsey oder vom Weltwirtschaftsforum erhoben wurden, zeigen, dass es praktisch zu einem Stillstand gekommen ist, was die Gender Balance an der Unternehmensspitze angeht.

Wie erklären Sie sich das Phänomen?
Es ist nicht so, dass man nicht danach streben würde. Es wird sogar sehr viel Zeit, Energie und Geld darauf aufgewendet. Nur leider wird das Geld ineffektiv, das heisst fürs Falsche ausgegeben.

Was kann falsch sein, wenn man eine ausgeglichene Vertretung der Geschlechter anstrebt?
Man kann die Gender Balance von zwei verschiedenen Seiten her betrachten: vom Blickwinkel der Genderneutralität her und von jenem mit Genderfokus. Neutral heisst, dass man davon ausgeht, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Unternehmenswelt eliminiert werden sollen, um Chancengleichheit zu erzielen. Das schliesst Quoten ein. Die Grundidee, die dieser Philosophie zugrunde liegt ist, dass es ein Problem auf Seiten der Frauen gibt, das man mit Frauennetzwerken und Trainings, die isoliert auf Frauen ausgerichtet sind, lösen will. Dafür wird viel Geld ausgegeben.

Was ist daran schlecht?
Diese Methode funktioniert deswegen schlecht, weil sie aus der Genderfrage ein Politikum macht und die unternehmerische Freiheit einschränkt. Wo Regulierungen von aussen auferlegt werden, herrscht Zwang, und Zwang stösst auf Ablehnung. Die genderfokussierte Betrachtung hingegen erachtet die geschlechsspezifischen Unterschiede als grundsätzlich positiv und für das Unternehmen gewinnbringend. Je mehr Diversität in einem Unternehmen herrscht, desto mehr Kreativität gibt es und desto besser sind die Entscheidungen. Damit kann man Geld verdienen, und deshalb sagen Manager dazu eher ja.

Wie genau profitiert ein Unternehmen vom Einsatz beider Geschlechter als Arbeitskräfte?
Das Unternehmen profitiert in mehreren Belangen. Erstens: Wenn man eine Kundschaft betreuen will, die zu einem gewichtigen oder gar zum Grossteil aus Frauen besteht, bedient man diese Kundschaft besser, wenn die Produkte und Dienstleistungen nicht von einem reinen Männerteam entwickelt werden. Zweitens belegen Forschung und Praxis, dass Diversität zu mehr Ideen und deswegen zu mehr Innovation und besseren Entscheidungen führt. Und drittens: Wenn ein Unternehmen die besten Leute anziehen will, um am Markt den grösstmöglichen Erfolg zu haben, dann muss man aus dem kompletten Talentpool rekrutieren und nicht nur aus der Hälfte. Sonst vergibt man sich grosse Chancen.

Sie haben als HR-Verantwortlicher bei Royal Dutch Shell, GM, Georg Fischer, UBS schon vor 30 Jahren konkrete Strategien entworfen, dass Unternehmen Gender Balance umsetzen. Was hat sie damals dazu bewogen? Ich bin ein Produktivist, kein Feminist. Wenn man sieht, dass Unternehmen ihre Führungskräfte nur aus der Hälfte des Talentpools rekrutiert, dann machen sie offensichtlich etwas falsch, wenn man annimmt, dass sie die besten Leute einsetzen sollten, um die Produktivität zu steigern. Mir ging es immer um die Wertschöpfung fürs Unternehmen. Sie war und ist meine Motivation. Schon bei Shell, einem Unternehmen, das sehr zentralistisch geführt wurde, habe ich im Personalbereich ein System der Wertschöpfung implementiert. Bei personellen Umbesetzungen ging es also nicht nur um das Stopfen von Lücken bei Rochaden, sondern darum, bei jeder Bewegung einen grösseren Mix der Nationen oder der Geschlechter zu erzielen, oder darum, dass der Einzelne befördert wurde oder etwas Neues lernen konnte.

Inwiefern haben sich Ihre Motivation und Ihr Blick auf das Thema Gender Diversity seither verändert?
Das Wort Diversity gab es damals noch nicht, aber ich erachtete schon damals den Einsatz von Frauen in Unternehmen für ihren Erfolg als zentral, und das tue ich immer noch.

Welche spezifischen Massnahmen haben Sie angewandt?
Eine zentrale Massnahme bestand darin, Bedingungen zu schaffen, die es möglich machen, Frauen für Führungsrollen zu rekrutieren. Früher war es ein Novum, dass man die Arbeitszeit flexibler gestaltete, so dass man nicht mehr vor dem Problem stand, Familie und Arbeit zu vereinbaren. Das hat sich verbessert. Wo es heute noch immer sehr hapert, ist bei der Möglichkeit, einen flexibleren Karrierepfad zu formen. Teilzeitarbeit sollte nicht Karrierestopp bedeuten. Man sollte später wieder auf die Linie kommen können, die in eine Führungsrolle führt. An alternativen Karrierepfaden mangelt es heute. Viele Unternehmen haben nach wie vor nur ein einziges Modell vor Augen und haben Schwierigkeiten, ein anderes anzubieten – zulasten der Frauen.

Wo haben Sie selbst mit Ihren Massnahmen hinsichtlich einer ausgeglicheren Geschlechterrepräsentanz Erfolge verzeichnet?
Als ich bei Opel General Motors arbeitete, standen wir unter grossem Konkurrenzdruck, als Renault mit dem «Megane Scenic» ein preisgünstiges familienfreundliches Auto mit viel Platz auf den Markt brachte. Zu der Zeit fand man heraus, dass Frauen eine viel gewichtigere Stimme beim Autokauf hatten, als man dachte. Ich war damals für HR zuständig, und mir gelang es, eine Frau mit grosser Marketingerfahrung zu rekrutieren, die dann das Konkurrenzauto, den Opel Zafira, entwickelte. Er wurde zu einem Riesenerfolg. Mit diesem Schachzug hatten wir die Konkurrenz wieder weggedrückt.

Heute arbeiten Sie als Unternehmenscoach. Würden Sie aus Ihrer Erfahrung sagen, dass die Wichtigkeit der Gender Diversity verstanden wird?
Grundsätzlich wird verstanden, dass es nicht nur im Interesse der Frauen, sondern auch der Unternehmen steht, Führungsrollen vermehrt mit Frauen zu besetzen. Aber es ist nicht einfach, Gender Balance durchzusetzen. Was noch zu wenig verstanden wird, ist, dass es nicht ohne Investitionen und echtes Umdenken vonstatten geht, wenn Männer und Frauen lernen sollen, zusammenzuarbeiten.

Immer wieder heisst es ja, die Frauen stünden sich selber im Weg. Was kommt Ihnen da diesbezüglich konkret aus den Unternehmensetagen zu Ohren?
Oft höre ich tatsächlich: «Wir geben Frauen ja die Möglichkeit, aber sie wollen nicht.» Das Problem dabei ist nur, dass diejenigen, die Beförderungen anbieten, oft Männer sind und von Frauen gleiche Verhaltensmuster erwarten wie ihre eigenen: nämlich dass sie sofort und ehrgeizig zugreifen. Doch Frauen reagieren anders. Sie sind zwar gleich ehrgeizig, aber sie drücken es anders aus. Sie fragen sich: «Kann ich das?», sie haben vielleicht eher Zweifel, und sie sagen nicht sofort ja. Das wird dann oft als Unsicherheit oder fehlender Ehrgeiz missverstanden. Für Frauen ist es daher sehr wichtig zu wissen, dass sie zu einem Publikum sprechen, das anders tickt als sie selber, und dass sie nicht unbedingt so verstanden werden, wie sie es meinen.

Ein fundamentales Missverständnis. Wie kann man dem begegnen?
Sheryl Sandberg von Facebook prägte mit ihrem Buch bekanntlich den Slogan «Lean In». Ich richte meinen Aufruf an Männer und sage: «Lean forward». Wendet euch den Frauen und ihrer Empfindungswelt zu. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass man als Mann bei der Kandidatin nochmals nachfragt, gut zuhört, sie nach den Beweggründen des allfälligen Zögerns fragt.

Männer und Frauen müssen ihre Verständigung üben?
Genau. Ich sehe als wichtigen Teil meiner Arbeit an, Frauen darin zu unterstützen, dass sie richtig verstanden werden, ohne ihre Authentizität und ihre Weiblichkeit zu verlieren.

Aber sollten nicht eben gerade die Männer dieses Coaching haben?
Auch das gehört zu meiner Arbeit. Ich coache regelmässig Männer im Führen gemischter Teams. Denn es geht ja darum, wie sie das Beste aus ihrem Team herausholen.

Das eine ist, dass man in eine Führungsrolle kommt. Das andere, die Führungsrolle zu leben und verteidigen. Sind da verschiedene Fähigkeiten involviert?
Wenn man den Führungsjob hat, muss man sich des politischen Spiels bewusst sein. Es gilt, an seinen Beziehungen und an seinem Image zu arbeiten. Die Leute wollen mit einem arbeiten, weil es ihnen etwas bringt, und nicht nur, weil man nett ist. Die männliche Sozialisation ist mehr darauf ausgerichtet, Gruppen handzuhaben, und Männer verstehen, wie informell Machtverhältnisse gelebt werden. Die Schwierigkeit für Frauen besteht darin, dass sie in der Führungsrolle in der Minderheit sind. Umso zentraler ist es für sie, gute Beziehungen in dem Umfeld zu etablieren, in dem sie sich bewegen – und das heisst zwangsläufig mit den Männern. Als Frau sollte man sich nicht auf ein kleines Netzwerk oder nur ein Frauennetzwerk zurückziehen.

In Ihrem Buch «Leadership Strategies for Women» untersuchten Sie historische Beispiele von Umgang mit Macht. Welche Strategien sind besonders gewinnbringend, um in einem Unternehmen heute als Frau Erfolg zu haben?
Ein Wesenszug, der mir bei allen vier der untersuchten Herrscherinnen ins Auge stach, war, dass sie im Stande waren, ihren Geschlechterunterschied zu nutzen. Heute versuchen leider Frauen oftmals, das männliche Modell zu imitieren. Isabella von Spanien oder Katharina die Grosse aber sind authentisch geblieben. Sie haben sogar explizit weibliche Archetypen ausgenutzt, um ihre Autorität zu signalisieren. Isabella von Spanien etwa war einerseits die starke Fürstin, die Kriege führte, aber gleichzeitig präsentierte sie sich als Mutter im Kreise ihrer Familie, sie nahm ihre Kinder zur Arbeit mit, und sie ging traditionell weiblichen Aktivitäten nach, wie etwa Nähen. Damit signalisierte sie: Ich bin die Chefin, aber ich bleibe immer noch Frau.

Ihre Forschung zeigt vor allem auch auf, wie wichtig Reputationsmanagement ist – Jahrhunderte vor Networking und Social Media.
Ja, Katharina die Grosse hatte etwa das Problem, dass sie nicht Teil der zaristischen Familie war und die Macht mit einem Staatsstreich ergattert hatte. Um einem allfälligen Akzeptanzproblem zu begegnen, hatte sie schon vor der Machtergreifung sehr sorgfältig ihr Netzwerk mit ausländischen Botschaftern und wichtigen Persönlichkeiten in Russland geknüpft. Als siedie Macht ergriff, konnte sie sich somit schon auf ein Support Network von Befürwortern stützen und Gegenstimmen unterdrücken.

Inwiefern sind das taugliche Role Models für die komplexe Welt des 21. Jahrhunderts?
Es handelte sich um kapitalistische Gesellschaften, die nach denselben Wertesystemen funktionierten wie unsere heutige Gesellschaft. Und gerade weil damals die Welt einfacher war, kann man deutlicher sehen, wie damals Machtergreifung und Machterhalt funktionierte.

Zurück in die Gegenwart: Wenn wirtschaftliche Gründe für Gender Balance sprechen, warum tut sich die Wirtschaft immer noch so schwer damit? Hierzulande sind bloss 15 Prozent aller Verwaltungsratsmitglieder Frauen, in Geschäftsleitungen sind es noch weniger. Die Schweiz hinkt im europäischen Vergleich hinterher.
Was man leider nicht realisiert hat, ist, dass die Zusammenarbeit schwieriger ist in gemischten Teams. Das muss man erst lernen. Wir wissen alle, wie schwierig das Miteinander manchmal zu Hause ist. In Organisationen wird es noch schwieriger, weil die Toleranz der Liebe fehlt. Wenn man aber da nicht investiert, geht der Schuss nach hinten los. Denn dann hat man mit diversen Teams möglicherweise ein schlechteres Ergebnis als eine Organisation, die nur aus Männern oder Frauen besteht.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat das Vertrauen in Banken und Unternehmen erschüttert. Glauben Sie, dass das Hinterfragen der Werte der ausgeglicheneren Geschlechtervertretung in der Arbeits- und Wirtschaftswelt neuen Auftrieb gibt?
Es gibt Stimmen, die sagen, wären die Lehman Brothers die Lehman Sisters gewesen, hätten wir keine Finanzkrise. Dieser Ansicht bin ich nicht. Aber wenn es Lehman Brothers and Sisters gegeben hätte, hätte man die Komplexität besser und aus verschiedenen Blickwinkeln managen können.

Ihre Zukunftsprognose?
Die Wirtschaft funktioniert wieder gut, und in vielen entwickelten Ländern wird das Problem zunehmend grösser, qualifizierte Leute zu finden. Das wird zwangsläufig zu einer Bewegung führen, dass man mehr Frauen rekrutiert. Gerade in der Schweiz, wo man mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative restriktiver Ausländer anstellt, könnte das für Frauen von Vorteil werden.

Über Paul Vanderbroeck

Paul Vanderbroeck arbeitete als Human-Resources-Verant- wortlicher für Royal Dutch Shell, GM, Georg Fischer, UBS und implementierte Gender-Diversity-Programme. Heute arbeitet er als Forscher und Coach in der Führungsentwicklung u.a. am IMD International und am INSEAD Fontainebleau. Er pub- liziert in der «Harvard Business Review» und «McKinsey Quarterly». Er lebt und arbeitet in Genf, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Buch «Leadership Strategies for Women. Lessons from Four Queens on Leadership and Career Development» (Springer Verlag) diskutiert historische Rollenmodelle für Frauen in Führungspositionen.

Interview Brigitte Ulmer         Bild ZVG

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