Beatrice Trussardi engagiert sich für eine breite Zugänglichkeit zur zeitgenössischen Kunst. Nach zehn Jahren als CEO und VR Präsidentin der Trussardi-Gruppe widmet sich die Philanthropin heute ihrer Kunstmission und ihrer Familie.
Beatrice Trussardi trägt einen illustren Namen. Die 50-jährige Italienerin ist die älteste Tochter des 1999 verstorbenen Modeindustriellen Nicola Trussardi und damit Abkömmling einer Familiendynastie, die eines der bekanntesten Modelabel begründete. Sie selbst leitet eine Kunststiftung, die in der Kunstwelt in den letzten Jahren wegen Kunstaktionen an ungewöhnlichen Orten von sich reden machte. Doch im Gespräch wird rasch klar, dass sie ihre Rollen klar aufteilt. Wenn man sie zu ihrem Herzensthema befragt – der breiten Zugänglichkeit zur zeitgenössischen Kunst – ist sie voller Enthusiasmus, spricht fokussiert und gibt geduldig wohlüberlegte Antworten. Alles andere – Fragen zur Trussardi-Gruppe, deren CEO und Verwaltungspräsidentin sie für über zehn Jahre war – gehören für sie ins Reich der Vergangenheit und müssen somit ausgeklammert werden. Beatrice Trussardi agiert heute vor allem als Philanthropin, die den Grossteil ihrer Zeit ihrer Kunstmission, ihren zwei Kunststiftungen und ihrer Familie widmet.
WOMEN IN BUSINESS: Wie kamen Sie eigentlich zur Kunst?
Beatrice Trussardi: Ich war von Kindesbeinen an mit Kunst umgeben. Zu unseren Familientreffen kamen immer auch Freunde meiner Eltern, und das waren Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Intellektuelle. Mich mit Kunst zu umgeben, war für mich deshalb nichts Fremdes, sondern die natürlichste Sache der Welt. Ich nahm auch privaten Unterricht in Kunst, ging in Museen und Galerien. Das hat sicherlich meinen Instinkt geformt. Später, als ich in New York studierte, entwickelte ich meinen eigenen Zugang zur Kunst.
Wie das?
Ich arbeitete für verschiedene Museen, war etwa bei der Eröffnung des Guggenheim Museums in Bilbao mit dabei. Ich erhielt viel Einsicht in die Arbeit von Künstlern und dabei habe ich eine Menge eigener Erfahrungen mit Künstlern und dem Kreationsprozess gemacht.
Sie leiten die Kunststiftung Nicola Trussardi, und jetzt haben Sie auch noch eine eigene Stiftung gegründet, die auf Ihren Namen lautet. Was gab den Ausschlag?
Es geht nicht um mich, meine persönlichen Interessen oder meinen Geschmack. Es geht mir darum, mich durch diese Stiftung in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, und zwar auch international. Ich möchte zeitgenössische Kunst direkt unter die Leute bringen. Das war bereits der Urgedanke der Nicola Trussardi Stiftung, die ich über viele Jahre formte und prägte.
Nachdem ihr Vater 1999 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, kehrte Beatrice aus New York zurück und übernahm die Leitung der Nicola Trussardi Stiftung. Zuvor hatte sie an der New York University Art Business & Administration studiert und für Museen wie das Metropolitan Museum und das Guggenheim gearbeitet. Die Stiftung war von Beginn an keine still tätige Stiftung hinter den Kulissen. Ursprünglich am Hauptsitz von Trussardi gelegen, gleich neben der Scala, dem Mailänder Opernhaus, verband Trussardi ein Modehaus mit Kunstausstellungen, einer Buchhandlung, einem Café und einem Restaurant. Doch Beatrice Trussardi drückte der Stiftung nun ihren eigenen Stempel auf. Ihr war aufgefallen, dass Italien, obwohl ein Land, das an jeder Strassenecke Kultur atmet, wenig Verständnis für zeitgenössische Kunst hatte. Unter ihrer Leitung zog die Stiftung 2003 aus ihren Ausstellungsräumen im Palazzo Trussardi alla Scala aus. Stattdessen brachte sie zeitgenössische Kunst direkt in die Stadt. Die Stiftung wurde in ein nomadisches Museum umgewandelt, der damals noch junge Kurator Massimiliano Gioni mit an Bord geholt – er ist heute künstlerischer Direktor des New Museum in New York. Die zwei brachen mit allen Konventionen, wie eine Kunststiftung fungierte, und brachten Künstler an ungewohnte Orte. Im Palazzo Litta etwa, der über 50 Jahre lang der Sitz der staatlichen Eisenbahnen war, zeigten sie (in Zusammenarbeit mit der Tate Modern und dem Kunsthaus Zürich) die grosse Retrospektive von Peter Fischli und David Weiss. Oder sie präsentierten die britische Künstlerin Sarah Lucas in einem unterirdischen Bad neben einer U-Bahn-Station. Die Nicola Trussardi Stiftung belebte die Stadt, und sie setzte die Kunst frei. Beatrice Trussardi hat Erfahrung darin, mit Brüchen und Umbrüchen umzugehen. Sie nutzt Chancen, die aus Krisen erwachsen. Mitten in der Pandemie hat sie ihren Lebensmittelpunkt ins Engadin verlegt und dort die Beatrice Trussardi Stiftung begründet.
Was zeitgenössische Kunst ausserhalb der Museums und Galeriemauern anbetrifft, haben Sie in Italien quasi Pionierarbeit geleistet. Trotzdem wird Kunst oft immer noch als etwas Abgehobenes, Elitäres betrachtet. Wie erklären Sie sich das?
Ich denke, das Problem liegt darin, dass Kunst noch immer allzu oft in Zusammenhang mit dem kommerziellen Aspekt gesehen wird. Was in die Breite kommuniziert wird, sind der Markt, die Kunstmessen, die astronomischen Auktionspreise. Ich aber betreibe die Kunststiftung als Nonprofit-Organisation. Es geht mir darum, Kunst zu den Leuten zu bringen, und nicht umgekehrt, die Leute zur Kunst. Darin liegt auch der grosse Unterschied zu den vielen anderen Kunststiftungen, die in den letzten Jahren entstanden sind.
Kunst-Mäzenatentum ist en vogue, und es findet Anklang beim Publikum. Der Besuch der Fondazione Prada in Mailand oder der kürzlich eröffneten Pinault Collection in Paris oder der Fondation Louis Vuitton stellen Fixpunkte in jeder Kultur (und Social-)Agenda dar für Leute, die mitreden wollen. Doch mit dem Kunstengagement von Beatrice Trussardi verhält es sich subtiler. Bewusst entzieht sie sich dem lauten Spektakel, der grossen Werbetrommel und der leichten Konsumierbarkeit. Stattdessen will sie, dass sich die Projekte mit den Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzen; mit unserem Verhältnis zur Natur, zur Spiritualität, mit Gesellschaftsutopien zum Beispiel. Im Jahr 2020, als die meisten Einrichtungen und Museen schliessen mussten, entwickelte sie zwei Projekte, die direkte Reaktionen auf die Pandemie waren. Das Online-Projekt «Viaggi da camera» (Zimmerreisen) thematisierte die Kraft der Imagination in Zeiten des Lockdown. Inspiriert vom berühmten Roman von Xavier De Maistre aus dem 18. Jahrhundert «Reise um mein Zimmer» – geschrieben während einer 42- tägigen Zwangseinweisung in einem Zimmer in Turin – lud das Projekt Künstler ein, die Türen zu ihren eigenen realen und imaginären Zimmern zu öffnen.
Das zweite Projekt war so erfolgreich und berührend, dass es sogar in der «New York Times» gepriesen wurde: Die Stiftung hatte den isländischen Künstler Ragnar Kjartanssons eingeladen, in Mailand ein Werk zu realisieren. Als Ort wurde die Kirche San Carlo al Lazzaretto auserkoren, die im 16. Jahrhundert in Gedenken an die Opfer der Pest gebaut worden war. Begleitet von der Kirchenorgel sangen professionelle Sänger das Stück «Il cielo in una stanza», das berühmte Lied von Gino Paoli aus dem Jahr 1960, jeden Tag sechs Stunden lang und ununterbrochen. Das Lied ist Mitgliedern der älteren Generation besonders kostbar: Es handelt davon, wie in der Fantasie Wände gesprengt werden, wenn man liebt. Mit den Folgen der Pandemie, vor allem mit unserem Umgang mit der Natur, hat das erste Projekt der Beatrice Trussardi Stiftung zu tun, zudem sie den polnischen Künstler Pawel Althamer in die stille Natur des abgelegenen Fextals im Engadin lud. Wer das Projekt sehen wollte, musste zu Fuss, mit dem Fahrrad oder mit einer Pferdekutsche zu einer Berghütte gelangen. In der Hütte wurde man mit der zerfurchten, nackten Figur konfrontiert, ab und an schaute eine Ziege vorbei. Althamer spielte damit auf den heiligen Franziskus an, der als Sohn eines reichen Tuchhändlers in Assisi aufwuchs und mit seiner Familie brach und den Franziskanerorden gründete. Er lebte fortan in Askese und unterhielt eine besonders innige Beziehung zu Tieren und Natur. Trussardi schwärmt von der spirituellen Dimension des Ortes. «Die Erfahrung, den Ort durch die stille Natur wandernd zu erreichen, war ein wichtiger Teil der Botschaft des Künstlers», sagt sie.
Es ist mutig, Kunst so weit weg von den Zentren zu bringen. Warum betreiben Sie diesen Aufwand?
Ich möchte Kunst auf eine vollkommen neue Art zeigen. Abseits der konventionellen Orte. Sie soll in den Dialog mit der Umgebung treten, sei es in der Stille der Natur oder im urbanen Zentrum. Ich möchte, dass die Menschen überraschend auf die Kunst stossen.
Was erhoffen Sie sich davon?
Im Grunde geht es darum, dass sich die Menschen Fragen stellen. Kunst stimuliert persönliche Reaktionen. Sie eröffnet verschiedene Perspektiven, die Realität zu sehen.
Dann hat Kunst für Sie eher eine soziale als eine ästhetische Funktion?
Absolut! Es geht mir überhaupt nicht um die Ästhetik, um Kunst als Dekoration. Es geht mir darum, Fragen zu stellen und über verschiedene drängende Themen nachzudenken.
Ist es nicht etwas zu viel von der Kunst verlangt, wenn sie die wichtigen Herausforderungen unserer Zeit mitbewältigen soll?
Natürlich geht es nicht darum, dass Kunst unsere Probleme lösen soll. Aber Kreativität hat schon immer zu unterschiedlichen Perspektiven auf unsere Gesellschaft verholfen. Die Imagination kann im Vergleich zu den funktionalen Disziplinen neue Szenarien aufzeigen, neue Möglichkeiten eröffnen.
Ihre Stiftung übernimmt auch Forschung zu verschiedenen Themen. Welcher Gedanke steckt dahinter?
Unser aktuelles Forschungsthema gilt dem alpinen Raum, und welche Innovationen aus ihm historisch und aktuell hervorgehen. Dazu wird es im neuen Jahr eine Konferenz und eine Publikation geben.
Was gewinnen Sie persönlich daraus, so nahe an der Kreation zu sein? Gibt es etwas, das Sie von Künstlern gelernt haben in all den Jahren?
Ich finde es faszinierend, dem kreativen Prozess von Künstlern aus nächster Nähe folgen zu können. Wir geben den Künstlern immer ein Briefing, das sich aus einem bestimmten Thema und einem von uns ausgewählten Ort ergibt. Daraus ergibt sich ein Stimulus. Aber dann sind sie vollkommen frei, und es obliegt ganz dem Künstler oder der Künstlerin, neue Ideen und Arbeiten hervorzubringen.
Denken Künstler anders?
Ich glaube, sie arbeiten tatsächlich mehr mit ihrer Intuition. Bevor sie sich an die praktische Ausführung oder ans Handwerk machen, entwerfen sie die Idee, ein Konzept in ihrem Kopf. Das geschieht allein in ihrer Imagination. Die letzten Projekte Ihrer zwei Stiftungen haben sich stark mit der Pandemie, mit dem Effekt des Lockdowns, und auch mit unserem Verhältnis zur Natur, beschäftigt. Sie selbst haben den Lockdown im Engadin verbracht, und haben inzwischen Ihren Familiensitz dahin verlegt.
Inwiefern erlebt man diese Gegend anders, als wenn man hier Ferien macht?
Hier oben ist natürlich ein ganz anderer Lebensrhythmus als in Mailand. Es herrscht eine grosse Stille. Es gibt weder Luftnoch Lichtverschmutzung wie in einer Grossstadt. Das ist eine vollkommen andere Erfahrung! Sie hatte für mich eine meditative Dimension; sie erlaubte mir eine Art von Introspektion, die ich sonst nicht erlebe. Aber letztlich haben während des Lockdowns alle diese Introspektion, und einen neuen Lebensrhythmus, erlebt.
Werden Sie wieder in die Stadt zurückkehren?
Ja sicherlich, immer wieder! Wir alle brauchen soziale Stimulation und Inspiration. Es geht um die richtige Balance.
Beatrice Trussardi
Beatrice Trussardi wurde 1971 in Mailand als Tochter des Modeunternehmers Nicola Trussardi geboren. Von 1999 bis 2014 hatte sie verschiedene Positionen innerhalb der Trussardi-Gruppe inne, darunter auch die des CEO und der Verwaltungsratspräsidentin. Seit 2003 hat sie die Fondazione Nicola Trussardi zu einem in der Kunstwelt renommierten nomadisierenden Produktions- und Ausstellungsmodell entwickelt. Zu den Künstlern, die von der Stiftung präsentiert wurden, gehört die Crème der internationalen Kunstszene, u. a. Maurizio Cattelan, Tacita Dean, Urs Fischer, Fischli und Weiss, Paul McCarthy, Pipilotti Rist, Tino Sehgal und Allora & Calzadilla. Im Sommer 2021 hat sie nun die Beatrice Trussardi Stiftung gegründet, um die philanthropische Tätigkeit auch ausserhalb Italiens zu verfolgen. Für ihre kulturelle Arbeit wurde sie mit verschiedenen Preisen geehrt, u.a. dem Montblanc Arts Patronage Award und dem Piazza Mercanti Award der Mailänder Handelskammer für kulturelle Philanthropie. Trussardi ist ausserdem Mitglied des Vorstands des Comitato Fondazioni Italiane Arte Contemporanea. Sie ist Präsidentin der Friends of Aspen am Aspen Institute Italy, deren Ziel es ist, wichtige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen zu analysieren, ausserdem Mitglied des Women’s Leadership Board der John F. Kennedy School of Government an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, das sich dafür einsetzt, die Rolle der Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft durch den Beitrag internationaler Führungskräfte zu stärken. Beatrice Trussardi ist mit einem Medtech-Unternehmer verheiratet und hat zwei Söhne.