Die Zeit-Expertin Anna Jelen über das Leben in Warteschlaufen, zu kurze Tage und ihren steinigen Weg zur Erkenntnis.
Inspiration kann Aussergewöhnliches bewirken, ohne selbst aussergewöhnlich zu sein – ein Gedanke, ein Moment, eine Geschichte. Inspiration ist ein Funke, und oft ist ein Funke ein Mensch. Anna Jelen, «The Time Expert», ist eine regelrechte Funkenversprüherin. Da der Begriff nicht existiert, haben wir ihn im Nachgang des She’s Mercedes-Events «Power of the mind» vom letzten August, anlässlich dessen wir Anna Jelen kennenlernen durften, erfunden. Die 44-Jährige aus Arosa über ihren Umgang mit Zeit und ihren Wandel mit der Zeit.
WOMEN IN BUSINESS: Frau Jelen, wie wurden Sie Zeit-Expertin?
Anna Jelen: Mit der Zeit (lacht). Ich war auf dem Karrierepfad in einem internationalen Konzern, habe dort neben meinem eigentlichen Job noch Workshops in Sachen Auftrittskompetenz und Zeitmanagement gegeben. Ich kam schliesslich an den Punkt, wo ich eingestehen musste, dass ich innerhalb dieser Organisation meine Ideen nicht mehr weiter entwickeln konnte. Also habe ich gekündigt und mich selbstständig gemacht. Das war zuerst einmal ernüchternd.
Warum?
Es war naheliegend, dass ich klassisches Zeitmanagement unterrichte, allein das Schlagwort verkauft sich gut. Ich habe Konzepte vermittelt, wie durchgetaktete Menschen bessere To-do-Listen machen. Und ich hatte Leute in meinen Kursen, die von mir wissen wollten, wie sie mehr Zeit haben respektive mehr aus ihrer Zeit machen können, die Werkzeuge wollten. Das hat jeweils gut funktioniert, war aber nicht nachhaltig. Man hat sich das eine und andere aus dem Workshop zu Herzen genommen, ist dann aber in der Regel nach kurzer Zeit wieder in die alten Muster zurückgefallen. Kam dazu, dass mich das irgendwann alles gelangweilt hat und mein Enthusiasmus versiegte. Es kam, wie es kommen musste: Es lief irgendwann nicht mehr.
Und dann?
Mein Treuhänder sagte, du musst Konkurs anmelden. Ich forderte noch zwei weitere Monate. Im Wissen, dass ich nichts zu verlieren habe, entschied ich, ab jetzt behandle ich das Thema Zeit à la Anna. Ich fing nochmals von vorn an.
Nach welchem Vorbild?
Mein erster Workshop hiess, «Lebe nicht, als hättest du 1000 Jahre zu leben». Der Satz stammt von Seneca, den ich schon als junges Mädchen grossartig fand. Ideale habe ich keine mehr und Vorbilder auch nicht. Bewunderung empfinde ich für meinen Vater. Er ist krank und sagt, er hat kein Bedauern.
Was bewundern Sie daran?
Jemand, der in so einer Situation so etwas sagen kann, hat das Leben geliebt und wurde dafür vom Leben zurück geliebt.
Was ist heute Ihr zentrales Anliegen zum Thema Zeit?
Es geht nicht um Werkzeuge, sondern um Fähigkeiten, um eine Einstellung.
Bewusstsein statt Know-how?
Genau. Und da habe ich mich gefragt, wie gehe ich das an.
Und?
Gegenfrage: An was erinnern Sie sich spontan aus der vergangenen Woche?
Am Mittwoch blieb der Zug auf der Strecke stehen, ich verpasste eine Sitzung. Damit sind wir beim Kern der Sache: Sie würden sich weder an die Zugfahrt und höchstwahrscheinlich auch nicht an die Sitzung erinnern, wenn es so gelaufen wäre, wie Sie es geplant hatten. Was haften bleibt, ist, was nicht war, wie erwartet oder geplant.
Im Sinn: Raus aus der Routine, sonst verpasst man das Leben?
Es geht darum, mehr Kontrolle zu übernehmen über seine Lebenszeit. Sie ist ja nichts anderes als eine Anreihung von Momenten. Ich ermuntere dazu, nicht einfach darauf zu warten, dass etwas geschieht, sondern dafür zu sorgen. «Create moments», das ist mein Zeitmanagement.
Klingt recht abstrakt. Wie bringen Sie das Ihren Zuhörern rüber?
Ich erzähle Geschichten. Das rüttelt viele auf, insbesondere solche, die in einem hohen Tempo unterwegs sind.
Was sind das für Geschichten?
Ich habe Vorträge gehalten in Altersheimen und die Leute gebeten, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erzählen. Ich bekam unzählige unglaublich emotionale Geschichten aus der Vergangenheit zu hören. Bei der Frage nach der Gegenwart erlosch das Feuer, die Antwort lautete, naja, da gibt es nicht viel zu erzählen. Als ich sagte, dann reden wir doch über die Zukunft, lachten sie, «aber Anna, wir haben doch keine Zukunft». Das Fazit: Irgendwann wird das Thema Vergangenheit riesig.
Dann geht es darum, heute für die alten Tage Erinnerungen zu scheffeln?
Nein. Es geht darum, sich bewusst darüber zu werden, zu leben, nicht nur zu funktionieren. Wer im Hamsterrad steckt, ist immer am Warten – auf den Feierabend, aufs Wochenende, auf die Ferien. Kürzlich habe ich einen Manager nach seinen schönen Erinnerungen vom letzten Jahr gefragt. Er hatte genau drei Highlights präsent und wissen Sie was, die hatten alle in der einen Woche Ferien auf Mallorca stattgefunden. Ist doch schade um 51 anderen Wochen, nicht wahr?
Die grösste Malaise?
Wir packen zu viel in unsere Tage. Ich habe einmal mit einer Freundin, die mir erzählt hat, dass sie abends immer frustriert ist, weil sie nie alles erledigen konnte, was sie sich vorgenommen hatte, eine Liste erstellt mit allem, was sie an einem Tag erledigt haben will, damit es für sie ein guter Tag war. Und dann den jeweils nötigen Zeitbedarf dazugestellt und zusammengezählt. Ein guter Tag müsste für sie 31 Stunden haben.
Ihr Ratschlag an Ihre Freundin?
Ratschläge erteile ich keine mehr. Ich habe eine Geschichte erzählt, nämlich die, wie ich zu meinem Umgang mit der Zeit gekommen bin.
Erzählen Sie!
Ich war vor einiger Zeit in ein Unternehmen in Taipeh eingeladen als Workshopleiterin zum Thema Zeit. Dort fiel mir sogleich auf, dass alle vollkommen entspannt waren. Ich habe die Teilnehmenden einzeln gefragt, was in einen Tag rein muss, damit sie am Abend zufrieden ins Bett gehen können. Erste Antwort: Arbeit, Familie, Freunde. Zweite Antwort: Arbeit, Familie, Freunde. Dritte Antwort, Sie ahnen es: Arbeit, Familie, Freunde. Da habe ich mir überlegt, welche drei Säulen sind es bei mir?
Und?
Ganz einfach: Körper, Geist und Seele. Ich achte darauf, dass alle drei jeden Tag von meiner Zeit etwas abbekommen. Bewegung für den Körper, Arbeit für den Geist, Liebe für die Seele.
Corona hat viele aus der Routine gerissen. Wie haben Sie es erlebt?
Als Aufwachen. Ich dachte immer, der Applaus ist nicht wichtig für mich, heute weiss ich, dass es das Futter für meine Seele war.
Bestätigung fiel weg und Sie in ein Loch?
Genau so war es. Als die Pandemie begann, habe ich mich frohen Mutes als Referentin abgemeldet, um ein Buch zu schreiben. Ich habe mich schön eingerichtet und installiert, sass dann eines Morgens am Computer und schrieb: I should be happy now, ich sollte jetzt glücklich sein. War ich aber nicht. Im Gegenteil. Es quälten mich Zweifel an meinen Fähigkeiten, Entscheiden, an mir selbst – und ich musste einsehen, dass, wenn ich keine Bestätigung von aussen bekomme, da nichts ist. Das ist mir richtig eingefahren. Ich war gefordert, mich mit mir, meinen Bedürfnissen und Befindlichkeiten auseinanderzusetzen, diese anzunehmen und mich auch darum zu kümmern. Heute kann ich sagen, ich bin meine ziemlich beste Freundin, und dieses Gefühl ist grossartig.
Und was ist mit dem Buch?
Ich habe es in Arbeit, und es hat dieses Jahr für mich beruflich Priorität. Vorträge halte ich derzeit fast keine und wenn, dann anders als früher. Der Vortrag, den ich für She’s Mercedes gehalten habe, war mein erster Auftritt seit zwei Jahren. Und ich war zum ersten Mal nur freudig, nicht auch noch nervös. Ich habe mich in den vergangenen zwei Jahren definitiv verändert. Ich will auch nicht mehr lehren, sondern inspirieren.
An wen richten Sie es?
Ich habe heute viel mit Leuten zu tun, die sich für Philosophie interessieren und offen sind, sich selbst und auch ihr Tun zu hinterfragen, im Sinne von: Für wen mache ich eigentlich, was ich mache?
Und wem werden Sie Ihr Buch widmen?
Ich widme es den Menschen, die nicht so leben möchten, als hätten sie noch 1000 Jahre – die Erkenntnis ist die «essence of selfcare».
Event-Empfehlung der Redaktion
«The essence of self care»
Eine Veranstaltung der She’s Mercedes Initiative.
Datum und Uhrzeit: Mittwoch, 27. April, 18 Uhr
Ort: Grand Hotel Les Trois Rois, Basel
Ticketpreis: CHF 49.-
Anmeldung und weitere Informationen zum Event unter: www.mercedes-benz.ch
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Die Initiative She’s Mercedes steht für die Idee, dass Inspiration Aussergewöhnliches bewirken kann. Mehr zur Initiative und zu den Events von She’s Mercedes in der Schweiz finden Sie im Newsletter mercedes-benz.ch/shesnewsletter-de sowie unter mercedes-benz.ch/shes