Schon seit ihrer Jugendzeit beschäftigt sich Antje Kanngiesser mit den Themen Energie und Umwelt. Heute setzt sie sich als CEO des Schweizer Energiekonzerns Alpiq für die Förderung von Wasser-, Wind- und Solarkraft ein. Ein Gespräch über den Ausbau erneuerbarer Energien und die sichere Versorgung mit Strom.

WOMEN IN BUSINESS: Frau Kanngiesser, Sie stehen heute an der Spitze von einem der beiden grossen Energieunternehmen der Schweiz. Hat Sie diese Branche schon früh interessiert?
Antje Kanngiesser: Gewissermassen schon. Ich bin in Nordhessen in Deutschland aufgewachsen. In den 1980er Jahren habe ich als Teenager die Diskussionen um Fisch- und Waldsterben, saurer Regen, Ozonloch sowie um die Auswirkungen der Atom-Katastrophe in Tschernobyl mitbekommen. Schon damals hat es mich umgetrieben, was man dagegen tun kann. Deshalb habe ich als Jugendliche zusammen mit Freunden eine Umweltgruppe gegründet und später Jurisprudenz mit Schwerpunkt Öffentliches Recht studiert, weil Rechtskenntnisse grundsätzlich von Vorteil sind, um zu verstehen, was passiert. Meine Doktorarbeit habe ich dann über die Mediation in Genehmigungsverfahren für Grossprojekte wie Flughäfen, Kraftwerke oder Deponien geschrieben, ehe ich in verschiedenen Anwaltskanzleien mit Schwerpunkt Umwelt- und Abfallrecht gearbeitet habe.

Wie sind Sie in die Energiebranche gekommen, die für Frauen ja nicht gerade ein typisches Berufsfeld ist?
Durch meine anwaltliche Arbeit bin ich über das Abfallrecht zur Energiegewinnung aus Abfällen mit Biogas und von dort mit weiteren erneuerbaren Energien in Kontakt gekommen wie Photovoltaik, On- und Offshore-Windparks. Rückblickend ist es also kein Zufall, dass ich mich heute in meiner Funktion als CEO der Alpiq mit all diesen Themen beschäftige. Ob ich eine Frau bin oder nicht, spielt keine Rolle. Es geht darum, Leistung zu bringen, sich sozial einzubringen, eigenverantwortlich zu handeln und sich mit Freude für eine Sache zu engagieren.

Was fasziniert Sie an Ihrem Job als CEO der Alpiq?
Schon von klein auf habe ich Verantwortung übernehmen müssen. Das hat mich sehr geprägt. Mir wurde später wichtig, dass ich im Beruf eine verantwortungsvolle Rolle mit viel Gestaltungsspielraum übernehmen kann. Als CEO habe ich die Möglichkeit, zu gestalten, mich für etwas einzusetzen und etwas zu ändern. Das gefällt mir. Die Komplexität der Materie sowie die gesellschaftliche, systemische und wirtschaftliche Relevanz der Energiewirtschaft begeistern mich. Das Geschäft in der Energiebranche ist enorm spannend, weil es nie eine einfache und schnelle Lösung gibt.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Zuallererst mag ich Menschen sehr gern. Das scheint mir eine Grundvoraussetzung für gute Führung zu sein. Ich führe situativ sowie partizipativ und fördere kollaborative Entscheide. Wichtig sind mir zudem Werte wie Vertrauen und Respekt, aber auch Transparenz und Humor. In Krisensituationen hilft die klassische, militärische Führung, die ich im Rahmen einer Weiterbildung am International Institute for Management Development (IMD) während einer viertägigen Zusammenarbeit mit der Schweizer Armee kennengelernt habe. Führen in normalen Situationen und in Krisenfällen ist nicht dasselbe. Ich versuche, immer den richtigen Stil für die jeweilige Situation zu finden.

Wie werden bei Alpiq Frauen gefördert?
Diversität und Inklusion sind wichtige Themen bei uns. Wir möchten die Vielfalt fördern und andere Meinungen zulassen – unabhängig vom Geschlecht – auch wenn das manchmal anstrengend ist. In der Geschäftsleitung haben wir gegenwärtig einen Frauenanteil von einem Drittel, im oberen Kader beträgt er allerdings erst sieben Prozent. Hier haben wir uns zum Ziel gesetzt, bis 2030 rund 35 Prozent zu erreichen. Generell geht es mir nicht allein um Frauenförderung, sondern um die Vielfältigkeit. Alpiq ist in 20 Ländern aktiv, weshalb wir mit entsprechend unterschiedlichen Kulturen umgehen müssen.

Was können Frauen besser als Männer?
Dieses Thema lässt sich nicht einfach generalisieren. Die besten Resultate gibt es meiner Erfahrung nach mit gemischten Teams, in denen jede und jeder seine individuellen Stärken einbringen kann. Für entscheidender halte ich sowieso die kulturellen und nicht die geschlechtsspezifischen Unterschiede.

Wie stehen Sie zum Umwelt- und Klimaschutz? Was tragen Sie persönlich dazu bei?
Wie ich eingangs erwähnt habe, liegen mir die Umwelt und der Klimaschutz seit meiner Kindheit sehr am Herzen. Diese Einstellung gebe ich auch meinen beiden Töchtern weiter. Meinen Arbeitsweg vom Freiburger Seebezirk ins Büro nach Lausanne oder Olten lege ich im Normalfall mit dem Zug zurück. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, dann fahre ich ein Elektroauto. Lokal bewege ich mich viel zu Fuss oder mit dem Velo. Auf Flugreisen habe ich privat kaum noch Lust, beruflich nehme ich aber das Flugzeug schon noch hin und wieder. Gerne möchten wir unser Wohnmobil durch ein elektrisches Modell ersetzen, sobald es möglich ist. Ausserdem backen wir Brot selbst, kaufen saisonal direkt beim Bauern, der Laiterie und dem Winzer ein und versuchen, Foodwaste zu vermeiden.

Was kann Alpiq dazu beitragen?
Wir achten als Unternehmen stark auf die Umwelt und fördern die erneuerbaren Energien. Aber wir haben auch Gaskraftwerke, die zur Stabilisierung der Energieversorgung noch eine ganze Zeitlang gebraucht werden, um die Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen. Denn Wind und Sonne sind sehr volatil. Am flexibelsten ist man mit Wasserkraftwerken, aber die gibt es schon allein bedingt durch deren Topografie nicht in allen Ländern, weshalb dort Gaskraftwerke zum Einsatz kommen. Ziel muss es sein, mittel- bis langfristig auch diese Werke zu ersetzen bzw. diese auf Biogas oder grünen Wasserstoff umzurüsten. Diese beiden Energieträger werden in den nächsten 20 Jahren eine wichtige Rolle spielen. Die Alpiq will sich in der Umwelt- und Klimafrage verbindliche und messbare Ziele setzen. Wir analysieren die gesamten Prozesse, um noch effizienter zu werden. Da ist viel Detailarbeit gefragt, aber diese Analyse ist ein Gebot der Stunde.

Alpiq ist in der Schweiz an Kernkraftwerken (KKW) sowie in Italien, Spanien und Ungarn an Gaskombikraftwerken beteiligt. Wie beurteilen Sie das geplante Ausstiegsszenario?
Momentan sind zwei parallele Bewegungen zu beobachten: Der Stromverbrauch steigt, während weniger Strom produziert wird. Die Schweizerinnen und Schweizer haben an der Urne entschieden, dass die Schweiz aus der Kernenergie aussteigen soll. Bestehende Kernkraftwerke sollen am Ende ihrer Betriebszeit stillgelegt, zurückgebaut und nicht ersetzt werden. Allerdings können sie so lange weiter betrieben werden, wie es ihre Sicherheit zulässt und die Wirtschaftlichkeit gegeben ist. Die Schweiz hat keine festen Laufzeiten bestimmt. Ob die sicherheitstechnischen Anforderungen erfüllt sind, entscheidet das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Allerdings sind wir der Auffassung, dass wir gut daran tun, die Kernkraftwerke – solange sie sicher und wirtschaftlich betrieben werden können – am Netz bleiben sollten, bis wir den Ausbau der erneuerbaren Energien genügend vorangetrieben haben. Wir müssen auch so schnell und vor allem massiv ausbauen, um den künftigen Bedarf decken zu können.

Hat der Krieg in der Ukraine daran etwas geändert?
Nicht grundsätzlich. Der Krieg hat das Bild noch einmal verschärft und aufgezeigt, dass wir in Europa insbesondere im Bereich Erdgas eine sehr starke Abhängigkeit von Russland haben. Die Schweiz hat sich die Dekarbonisierung zum Ziel gesetzt. Aber man muss sich im Klaren sein, dass die Dekarbonisierung nur über die Elektrifizierung des Verkehrs und der Industrie unktioniert. Deshalb wird der Strombedarf stark zunehmen. Heute verbraucht die Schweiz 58,6 Terrawattstunden Strom pro Jahr. Gemäss Hochrechnungen wird dieser Wert bis ins Jahr 2050 auf rund 85 Terrawattstunden ansteigen. Diese Prognose scheint mir nicht übertrieben zu sein. Hauptreiber werden dabei die Mobilität, die Liegenschaften und die Industrie sein. Auch die Bevölkerungszunahme ist nicht zu vernachlässigen. Die Dringlichkeit zum Handeln scheint allerdings noch nicht überall wirklich erkannt worden zu sein. Der Konflikt in der Ukraine erzeugt nun Druck, damit die Forschung schneller arbeiten und Innovationen entwickeln kann. Vielleicht noch nicht heute und morgen, aber ich bin sicher, dass es vorwärts geht und heute noch embryonale Ideen bei der entsprechenden Aufmerksamkeit ihre Wirkung entfalten können.

Welches Potenzial haben wir im Bereich der Energieeffizienz?
Diese müssen wir verstärkt vorantreiben. Da liegen in der Schweiz beim Stromverbrauch vielleicht drei Terrawattstunden in Bezug auf den jährlichen Verbrauch drin. Das entspricht ca. fünf Prozent gerechnet auf den heutigen Verbrauch. Der Strombedarf durch die Dekarbonisierung steigt aber deutlich stärker. Deshalb müssen wir die erneuerbaren Energien rasch ausbauen.

Wie kann eine sichere Stromversorgung in der Schweiz langfristig garantiert werden?
Wir müssen aufhören, die verschiedenen Technologien gegeneinander auszuspielen und Gründe zu suchen, warum etwas nicht geht. Wichtig sind der Ausbau der Wasserkraft und die Photovoltaikanlagen sind im Alpenraum besonders im Winter sehr wirkungsvoll. Alpiq ist am Projekt für die grösste Photovoltaikanlage der Schweiz in Gondo beteiligt. Im Bild die Photovoltaikanlage und der Windpark von Alpiq auf dem Monte Mele in Sizilien. damit verbundenen Erhöhungen der Mauern von Stauseen, aber auch die Photovoltaik und der grüne Wasserstoff. Bei dieser Technologie müssen wir auch an die Speicherung der Energie denken, vor allem an die saisonale Speicherung, denn wir haben vor allem im Winter zu wenig Strom. In diesem Spannungsfeld gilt es einen Kompromiss zu finden zwischen der Energieversorgung und den Interessen des Umweltschutzes. Man darf nie vergessen, dass in der Energiebranche Planungs- und Genehmigungszeiten von bis zu 30 Jahren nicht aussergewöhnlich sind. Deshalb sollte auch darüber nachgedacht werden, die Genehmigungs- und Gerichtsverfahren zu beschleunigen. In anderen Ländern besteht diese Möglichkeit, weil das öffentliche Interesse an der sicheren Energieversorgung so gross ist. Energiepolitik ist immer auch Sicherheitspolitik.

Reicht dafür der Ausbau der erneuerbaren Energien? Oder ist das eine Träumerei?
Es ist grundsätzliche denkbar, dass wir irgendwann den ganzen Strombedarf aus erneuerbaren Energien decken können. Doch die Schweiz wird nie ganz autonom sein, sie ist keine Insel, und es wäre viel zu teuer. Allfällige Lücken wird sie auch künftig mit Strom aus dem Ausland schliessen, idealerweise auch aus erneuerbaren Energien. Denn die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist aus Umweltschutzsicht und in Bezug auf den Klimawandel eine Pflicht. Deshalb muss ein weiteres Ziel sein, die ganze Infrastruktur umzubauen und jedes Gebäude in ein kleines Kraftwerk zu verwandeln. Der technische Fortschritt wird viel dazu beitragen, dies zu ermöglichen.

Drohen der Schweiz Strommangellagen und Stromlücken?
Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) zeigte an ihrer Jahresmedienkonferenz im Juni auf, dass für den kommenden Winter Importe aus Frankreich sehr begrenzt möglich sein werden. Aktuell steht die Hälfte der 56 Reaktoren Frankreichs still. Die Exportfähigkeit der anderen Nachbarländer hängt stark von der Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe ab, wo wir aktuell mehr als grosse Fragezeichen haben. Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck hat im Juni die zweite Eskalationsstufe im Notfallplan Gas ausgerufen und zum Sparen aufgerufen, da Russland die Gaslieferungen stark gedrosselt hat. Das Risiko ist sehr real. Eine sichere Stromversorgung ist das Rückgrat einer gesunden Wirtschaft. Wir müssen die Wirtschaft schützen, sonst gehen die Arbeitsplätze verloren. Deshalb müssen wir beim Ausbau unserer Infrastruktur wirklich Tempo aufnehmen und Projekte priorisieren.

Welche Strategie verfolgen Sie mit Alpiq?
Wie in den letzten fünf Jahren, wo Alpiq eine halbe Milliarde Franken in die Schweizer Wasserkraft investiert hat, liegt unser Hauptfokus auch in der Zukunft auf dem Ausbau der Wasserkraft, die sehr flexibel ist. Wir sind an vier Projekten beteiligt und würden gerne morgen loslegen. Um der drohenden Stromknappheit zu begegnen, planen wir mit Partnern zum Beispiel eine neue Staumauer oberhalb von Zermatt im Wallis, um die Gletscherschmelze aufzufangen. Die Energie könnte über das bestehende Kraftwerk Grande Dixence verarbeitet werden. Dieses Projekt wäre in rund drei Jahren realisiert und könnte 650 Gigawattstunden Strom für die Wintermonate liefern, was enorm viel ist. Und für die Gemeinde Zermatt wäre mit diesem Projekt auch viel für den Hochwasserschutz getan.

Wie sieht es mit dem Ausbau der Photovoltaik aus?
Von Photovoltaikanlagen halte ich sehr viel. Besonders im Alpenraum sind sie sehr wirkungsvoll, weil dort das Sonnenlicht durch den Schnee reflektiert und verstärkt wird. Oberhalb der Walliser Ortschaft Gondo ist Gondosolar, die grösste Photovoltaikanlage der Schweiz, mit unserer Beteiligung in Planung. Auf einer Höhe von über 2000 Metern über Meer und dank der besonders günstigen Sonneneinstrahlung lassen sich dort rund 23,3 Millionen Kilowattstunden pro Jahr produzieren. Die höchste Wirkkraft hat Gondosolar im Winterhalbjahr.

Gleichzeitig steigt auch der Strombedarf, u.a. durch die steigende Verbreitung von Elektroautos. Wird sich diese Entwicklung auf die Strompreise auswirken?
Die Strompreise sind in den letzten 12 Monaten stark gestiegen und angesichts der geopolitischen Situation und dem andauernden Krieg sind Prognosen unsicherer denn je. Aber es gibt keine Anzeichen, dass die Preise in den nächsten Jahren wieder stark sinken werden. Andererseits war der Preis lange Zeit zu tief. Als Folge davon gab es einen Investitionsstau bei den Photovoltaikanlagen. Eine Megawattstunde kostete im Grosshandel weniger als 30 Euro, dabei liegen die Vollkosten bei Photovoltaikanlagen bei ungefähr 70 bis 100 Euro für eine Megawattstunde. Nun folgt die Korrektur dieser Preispolitik, und wir müssen massiv in den Ausbau der Produktionskapazitäten investieren. Nur so können wir – wie bereits erwähnt – künftig die Stromversorgung der Schweiz gewährleisten.


 

Antje Kanngiesser
Antje Kanngiesser steht seit März 2021 als Vorsitzende der Geschäftsleitung an der Spitze der Alpiq Gruppe. Die promovierte Juristin mit einem EMBA-Abschluss des IMD Lausanne arbeitete davor ab 2014 in verschiedenen Funktionen für die BKW Gruppe – zuletzt war sie für den Geschäftsbereich Group Markets & Services verantwortlich und gehörte der Konzernleitung an. Zuvor war sie während sieben Jahren in unterschiedlichen Führungspositionen bei der Alpiq Gruppe beziehungsweise der Energie Ouest Suisse (EOS) tätig. Zwischen 2001 und 2007 war Antje Kanngiesser Rechtsanwältin in Berlin mit Schwerpunkt Energie-, Infrastruktur- und Wirtschaftsrecht. Sie ist deutsch-schweizerische Doppelbürgerin und lebt mit ihrer Familie in Murten.

Alpiq
Die Alpiq Holding AG mit Hauptsitz in Lausanne ist einer der beiden grossen international tätigen Schweizer Energiekonzerne. In der Schweiz unterhält das systemrelevante Unternehmen noch in Olten und Sion operative Sitze, im Ausland in Prag, Paris, Mailand, Madrid, Helsinki und Berlin. Alpiq entstand aus dem Zusammenschluss der Atel Holding AG (Aare-Tessin AG für Elektrizität) sowie der EOS S.A. (Energie Ouest Suisse) und ist seit dem Jahr 2009 operativ tätig. In der Schweiz und in ausgewählten Ländern Europas ist Alpiq im Bereich Stromerzeugung, -vertrieb und -handel sowie Energiedienstleistungen tätig. Der Energiekonzern beschäftigt insgesamt mehr als 1200 Mitarbeitende.

Bilder: Alpiq / Andreas Mader; Yoshiko Kusano

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