Seit über 50 Jahren gehört Tilla Theus zu den profiliertesten Architektinnen. Am 4. Juni wird die Grande Dame der Schweizer Architektur 80. Ans Aufhören denkt die gebürtige Bündnerin aber keineswegs.

Die Bündnerin Tilla Theus studierte Architektur an der ETH in Zürich – zu einer Zeit, als Frauen dort noch die Minderzahl stellten. Gerade einmal acht Prozent der Studierenden am Departement waren damals weiblich. Inmitten der vielen männlichen Kommilitonen und Professoren erlernte die junge Bündnerin Mitte der 1960er Jahre nicht nur ihren Beruf, sondern auch, sich unter Männern durchzusetzen. Für sie ein Ansporn, einen Extra-Effort zu leisten. Das sollte bis heute so bleiben.

WOMEN IN BUSINESS: Tilla Theus, Sie haben sich direkt nach Ihrem Abschluss 1969 als Architektin selbstständig gemacht. Warum haben Sie sich dafür entschieden und war für Sie schon immer klar, dass Sie ein eigenes Büro führen wollten?
Tilla Theus: Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der Selbstverantwortung selbstverständlich war. Daher war es für mich immer klar, wenn ich ein Studium mit positiven Resultaten abschliessen kann, dass ich dann auch meine berufliche Verantwortung übernehmen will. Und zwar nicht in diesen Bereichen, in die wir Frauen gerne abgeschoben wurden, zu Projekten wie Küchen, Bädern und Einfamilienhäusern. Ich wollte in einem Massstab arbeiten, der unseren Semesterarbeiten entsprochen hat. Also öffentliche Gebäude, Alters- und Pflegeheime, Hotels und ganze Siedlungen. Zusätzlich war es für mich selbstverständlich, eigenverantwortlich im Team handeln zu können. Dies erwies sich als nicht so einfach, weil meine Mitarbeiter meist älter waren als ich. Das führte dazu, dass mir beim ersten Treffen mit unserer Bauherrschaften der Sekretärinnen-Status zugeteilt wurde mit der Äusserung: «Sie schreiben sicher das Protokoll, Fräulein?»

Welche Erfahrungen haben Sie als Frau in einem eher männerdominierten Bereich gemacht?
Ich habe vor allem zu Beginn meiner Karriere die Erfahrung gemacht, dass ich, um als Frau in einem technischen Beruf ernstgenommen zu werden, mehr liefern muss als meine männlichen Kollegen. Aber das hat mich nicht gross gestört: Schliesslich ist mein grösserer Einsatz dem Projekt zugutegekommen. Qualität fordert ihren Einsatz.

Ihr Architekturbüro besteht nun seit über 50 Jahren. Was hat sich im Laufe der Zeit verändert? Was ist einfacher und schwieriger geworden?
Unser Studium war und ist hart, sehr hart sogar. Später haben sich im Beruf viele Mitstudenten anders orientiert. Wer dabei blieb, hat diese Leidenschaft für Visionen, die bei dem Menschen, dem Bewohner, sei es in der Stadt, sei es im Quartier oder in einzelnen Gebäuden ein Wohlbefinden auslöst und damit dem Besitzer einen Mehrwert schenkt. Das ist über alle Zeiten identisch geblieben. Die Normen, die Vorschriften, die bauphysikalischen Gedanken und die energetischen Massnahmen haben sich verändert – aber dafür gibt es technische Möglichkeiten, die wir heute einsetzen.

Tilla Theus’ Büro in Zürich ist spezialisiert auf die Projektierung und Ausführung von Neubauten in städtebaulich anspruchsvollem Kontext, auf Umbauten und Sanierungen von denkmalgeschützten Objekten sowie auf Innenarchitektur und Raumdesign. Schon ihr erstes grosses Projekt, das Altersheim von Mollis, war eine Sensation: Tilla Theus, damals 26 Jahre alt und frisch ab Hochschule, gewann den Wettbewerb im Kanton Glarus. In den vergangenen 50 Jahren hat ihr Büro Bauten entworfen und erstellt, die weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt haben. Zu ihren wichtigsten Projekten gehört der gut abgeschirmte Hauptsitz des internationalen Fussballverbands FIFA auf dem Zürichberg. Das Bauwerk mit 300 Arbeitsplätzen umfasst zwei Ober- und fünf Untergeschosse mit einer Fläche von 37 400 Quadratmetern – quasi ein Hochhaus unter der Erde. Der von einem gewebeartigen Metallnetz umspannte Glasaufbau scheint überdem zurückversetzten Erdgeschoss zu schweben. Ein millionenschweres Projekt. «Sein Luxus und seine Unzugänglichkeit provozieren den Betrachter», urteilte die Neue Zürcher Zeitung. Für Schlagzeilen sorgte auch das Gipfelrestaurant auf dem Weisshorn, das von Natur- und Landschaftsschützern heftig und lange bekämpft worden war, bis das Bundesgericht sich für den Bau entschied.

Zeitlose Räume zu schaffen, die unzertrennlich mit der Architektur verbunden sind, das ist der grosse Verdienst der Architektin. Wie die Auseinandersetzung mit bestehender Bausubstanz und die sorgfältig austarierte Balance zwischen Alt und Neu das Werk von Tilla Theus kennzeichnen, kann man an zahlreichen Projekten ablesen – von der Revitalisierung des Restaurants Krone in Dietikon/ZH über das glamouröse «Gran Café Motta» in Zürich bis zum Umbau von acht Zürcher Altstadthäusern zum Hotel Widder. Tilla Theus beherrscht die Planung und Ausführung von Neubauten in städtebaulich anspruchsvollem Kontext ebenso wie stilsichere Umbauten und Sanierungen von denkmalgeschützten Objekten. Ihr jüngstes Werk ist das 2022 eröffnete Drei-Häuser-Hotel Caspar in Muri. Im Klosterort verband sie zwei über 500-jährige Gasthäuser – die Gasthöfe Adler und Ochsen – mit einem Neubau zu einem starken Ensemble. Aussergewöhnliche Handwerkskunst und der Blick fürs Detail prägen das neue Hotel.

Sie bauen leidenschaftlich gern historische Gebäude um. Was hat Sie besonders fasziniert am Auftrag für das Hotel Caspar in Muri?
Für mich war es eine spannende Aufgabe, nach vielen Umbauten in Zürich einmal nicht in einer städtischen Umgebung zu bauen. Muri als Klosterort ist ein Zwitter zwischen Stadt und Land. Das kulturelle Angebot ist in der kleinen Aargauer Gemeinde sehr hoch, die Gemeinde ist eng verknüpft mit dem bald tausendjährigen Benediktiner-Kloster. Für die private Bauherrschaft, vier alteingesessene Murianer, war der Bau des Hotel Caspars eine Herzensangelegenheit. Sie wollten Muri etwas zurückgeben. Das gab für mich als Architektin eine ganz andere Herangehensweise an das Projekt.

Inwiefern?
Ich verstehe die Bauherrschaft als Sparringspartner. Ich lege während des ganzen Bauprozesses grossen Wert auf einen Dialog auf gleicher Augenhöhe. Bauherrschaft und Architekt müssen sich Vertrauen schenken. Wir erziehen uns gegenseitig, aber ich bin mit den Jahren auch nachgiebiger geworden.

Sie kämpfen aber auch um Ihre Ideen.
Natürlich. Gerade über meine Idee, die Wandbemalung im Gastraum des «Adlers» mit einem Punktraster zu überfassen, war die Bauherrschaft zunächst gar nicht begeistert. Wir beziehen uns auf die Stiche des Malers Caspar Wolf: Die Bauherrschaft hatte eine Mappe mit alten Stichen des Künstlers gekauft. Im Kloster gibt es ein kleines Caspar-Wolf-Museum. Wir wollten aber nicht die Bilder einfach 1:1 übertragen und malen. So kamen wir auf die Idee, sie hochzuskalieren und auf Leinen zu malen. Das fand Anklang bei der Bauherrschaft. Was für sie fremd war: mein Vorschlag, einen Punktlayer über die Malerei zu legen, um diese mit dem Heute zu verknüpfen. Erst das grossformatige Punktemuster macht die Malerei nicht kitschig, sondern modern und zeitgemäss. Die Bauherrschaft kam für die Schlussbesprechung extra aus den Skiferien. Und gemeinsam wurde nach Diskussionen erkannt, dass die Verfremdung durch den Punkteraster zwingend sei.

Was ist bei Ihrer Spezialisierung auf die Verbindung zwischen Alt und Neu die grösste Herausforderung?
Es gibt ganz verschiedene Arten mit Alt und Neu umzugehen, zum einen Alt mit Neuem historisierend ergänzen, zum anderen Alt und Neu in Gegensatz zu stellen und dann noch Alt und Neu so zu verweben bzw. zu verschleifen, dass etwas anderes entsteht und weder das Alte noch das Neue ablesbar bleibt.

Wie gehen Sie da heran?
Wir versuchen zunächst den Geist des Baus zu erfassen. Wir gehen den Spuren der Geschichte nach – wie Detektive. So offenbart uns der Bau seine Geheimnisse und welche Veränderungen für ihn möglich sind. Nach dieser Recherche studieren wir die Bedürfnisse der künftigen Nutzer und übertragen diese in die Zukunft. Im Hotel Caspar gibt es eine ganze Palette, wie man mit Alt und Neu umgehen kann.

Wie im Gastraum des «Ochsen».
Der Gastraum mit den zwei Stuben ist vielfach umgebaut worden. Dort trafen die 1940er auf die 1980er Jahre, aus jeder Zeit haben wir Teile übernommen. So haben wir etwa die Rasterdecke aus den Achtzigerjahren in den Raum mit den furnierten Spanplatten aus den Vierzigerjahren integriert, während in der anderen Stube neu gestaltete Wandpaneele nach altem Muster eingefügt worden sind. Als Vorlage diente uns ein zufällig unter vielen Schichten entdecktes Tapetenstück.

Hochskalieren und Verfremden ist eine Stilübung, die Sie gern verwenden. Trompe-l’oeils eine andere. Findet man diese auch im Hotel Caspar?
Natürlich, beispielsweise in den Zimmern des «Adlers»: Für die Tischbeine entwarfen wir gedrechselte Holzbeine mit einem marmorartigen Anstrich, um so die Marmor-Ablageflächen mit den Beinen als Einheit wirken zu lassen. Allerdings mit einem kleinen Augenzwinkern!

Was steckt hinter dieser Idee?
Ich liebe es, in meinem Zimmer einen langen Tisch für meine Dinge zu haben. Solche überlangen Tischplatten wirken im Hotel schnell mal langweilig und leer. So suchten wir nach etwas Spielerischem. Der Projektleiter Holger Widmann hatte die Idee, für die eleganten grauen Marmorplatten gedrechselte Beine zu entwerfen, die der Restaurator marmorieren würde. Das Resultat wirkt erfrischend.

Der «Ochsen» und der «Adler» sind Umbauten. Wie ergänzt der Neubau «Wolf» das Ensemble?
Der «Wolf» sollte als enger Verwandter des «Ochsen» erkennbar sein. Um den Neubau nicht historisierend wirken zu lassen, haben wir einzelne Elemente des benachbarten Altbaus zeitgemäss umgesetzt. Zusätzlich wurde der Fassadenachse ein Knick verliehen und der Giebel leicht nach vorne geneigt. So wirkt das Haus plötzlich jung und frisch. Und die Geschichte dazu lautet: Der Wolf, (das Tier), neigt sein Haupt dem Gast entgegen und streckt seine Pfoten aus zum herzlichen Willkommen.

Die Verbindung von Alt und Neu, versehen mit lustvollen Spielereien und viel Sinn fürs Detail sind charakteristisch für Tilla Theus’ Werk. Seit sie mit dem Hotel Widder in Zürich (1988-1995) einen Meilenstein in der Geschichte der modernen Hotelarchitektur gesetzt hat, gilt sie als Expertin für die Sanierung von Hotels.

Das Luxushotel Widder wird als eines der ersten Designhotels bezeichnet. Was machte es damals so anders?
Es galt, in ein kleinzelliges und denkmalpflegerisch sensibles Quartier ein Luxushotel zu integrieren – architektonisch profiliert, städtebaulich harmonisch und betriebsökonomisch sinnvoll. Der Abbruch der acht mittelalterlichen Stadthäuser war ausser Frage. Ich beliess so jedem Baukörper seine Kleinräumigkeit, die ihn prägte. Das Hotel Widder setzt in der Luxuskategorie eine bahnbrechend ganzheitliche Hotelphilosophie um. Diese Trendwende basiert auf dem sinnlichen Erlebnis der Echtheit. Denn damals war ein Hotel der Luxuskategorie eigentlich eine Bühne – Plüsch, Brokat, Stuck und Samt, dazu unechtes Mobiliar. Hoteliers wollten es für ihre Gäste damals antik und kuschelig. Das war gar nicht mein Ding.

Sondern?
Wir wollten, dass die Gäste spüren, sie sind in einem Luxushotel, aber auch gleichzeitig zu Gast in einem städtischen Bürgerhaus. Wir setzten in den 51 Zimmern der acht Häuser auf echte Materialien, bis ins Detail. Ich fand es stossend, dass früher die Suiten alle paar Jahre neu ausgerüstet wurden. Und ich bewies, dass das nicht nötig ist. So konnten wir beispielsweise die hochwertigen Vorhänge mit ihren ebenso wertvollen Futterstoffen einfach umdrehen, Das Futter wurde zum Vorhang und der Vorhang zum Futter. Diese architektonische und innenarchitektonische Authentizität war für ein Luxushotel umwälzend neu.

Neu war auch die Möblierung.
Ja, was heute Standard ist, nämlich Designmöbel in den Zimmern und öffentlichen Bereichen einzusetzen, war damals vollkommen unüblich. Ich musste sogar zu den Herstellern wie Cassina und Vitra persönlich fahren und ihnen mein Konzept erläutern, damit ich den Le-Corbusier-Sessel nicht in Schwarz, sondern in Rot bekam.

Tilla Theus findet mit ihrem Team selbst auf die schwierigsten Fragen immer eine Antwort. Das schätzen ihre Auftraggeber ebenso wie die Sorgfalt, mit dem das Büro an die Projekte herangeht. Grundsätzlich mehr zu leisten, als von Männern verlangt wird, ist Tilla Theus eine Ehrensache.

Eine der zehn besten Hotelbars Europas: Die amerikanische Tales of the Cocktail Foundation zeichnete die Zürcher Widder-Bar im Mai 2022 aus. Sie sind bekannt für Ihren Hang nach Perfektion. Gehört Selbstausbeutung auch dazu?
Mein reicher Erfahrungsschatz verknüpft mit der stetigen Neugier, auch für Unmögliches eine positive Lösung zu finden. Dazu gehört Perfektion und auch, ich gestehe es ungern, Selbstausbeutung. Wenn es aber gelingt, lässt die Freude darüber alle Mühsal vergessen.

Wie haben Sie sich Ihre Leidenschaft für Architektur bewahrt?
Meine Visionen in gebaute Realität umzusetzen, ist meine Leidenschaft. Die Freude daran ist über alle Jahre und Jahrzehnte gleichgeblieben, obwohl sich das Umfeld in allen Bereichen geändert hat. Leidenschaft ist Pflicht in meinem Metier.

Was würden Sie jungen Frauen/Gründerinnen raten, die am Anfang ihrer Karriere stehen? Welchen Rat hätten Sie sich damals gewünscht?
Mut und Durchhaltewillen. ★


 

TILLA THEUS
Geboren am 4. Juni 1943 in Chur, studierte Architektur an der ETH in Zürich. Nach ihrem Studium eröffnete sie 1969 gemeinsam mit Hp. Grüninger ihr Büro in Zürich, das seit 1985 unter dem Namen Tilla Theus und Partner AG firmiert.

WERKE
Die Spezialität des Büros von Tilla Theus sind der Umbau von historischen Gebäuden und das Bauen in komplexen städtebaulichen Strukturen. Dazu zählen das Hotel Widder (1988- 2018) in Zürich, das Swiss Re Headquarter (1996–2000), das Haus zum Rechberg (2004–2014) in Zürich und das Bankgebäude Leuenhof (2017–2021) in Zürich. Daneben realisierte das Büro auch Einzelbauten wie das FIFA-Headquarter (2003–2006) in Zürich oder das Gipfelrestaurant Weisshorn (2006–2012) in Arosa.

Foto: Christian Scholz

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Die nächste WOMEN IN BUSINESS Ausgabe wird am 16.05.2024 lanciert

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